Die Tradierungsperspektive auf ein Psychomarktphänomen

Edition Psychotherapie und Zeitgeschichte

Moderne Erziehung zur Hörigkeit?

Die Tradierung strukturell-faschistischer Phänomene in der evolutionären Psychologieentwicklung und auf dem spirituellen Psychomarkt.
Ein Beitrag zur zeitgeschichtlichen Introjektforschung in drei Bänden.


3.1 Die Tradierungsperspektive auf ein Psychomarktphänomen

Diese Perspektive sichtet ein Überlappungsphänomen zwischen Psychotherapieschulen- und evolutionär-programmatischen Psychomarktangeboten. Hierzu lassen sich erstere gemäß ihrer kritischen Distanz oder Konfluenz mit Gesellschaftstrends in drei Gruppen einteilen, wobei die Gruppe, die am wenigsten abgegrenzt ist, am stärksten von Angeboten bzw. irrationalistischen Psychologieanleihen mit Evolutionsprogrammatik überlappt wird.

Der Untersuchungsgegenstand der Studie kann hierüber phänomenologisch gegenwartsgeschichtlich als Teilbereich der Psychologieentwicklung eingegrenzt werden, der auf dem heutigen Psycho- und Weiterbildungsmarkt boomt und sich von den anderen Entwicklungsbereichen der Psychologie am deutlichsten durch die Art des
Gesellschaftsbezugs, d. h.
  • durch seine Nähe zum gesellschaftlichen Erfolgsdenken nach Maßgaben von Marktvorgaben und Verwertungsoptionen und so zum Zeitgeist,
  • durch einen evolutionären Entwicklungs- und/oder Führungsanspruch im Wissenschaftsansatz,
  • durch eine gestalttheoretische, ganzheitliche und universalisierende Bezugnahme auf Mensch und Gesellschaft auszeichnet.
Der so legitimierte Führungsanspruch wird durch den Einbezug
  • einer multireligiösen Neugnosis im psychologisch ganzheitlichen, intentional-transpersonalen oder neobehavioristisch-metaprozessualen Selbstentwicklungsansatz,
  • einer philosophischen Bewusstseinsbildungsarbeit und
  • einer leib-seelischen Psychagogik im Dienste einer »heilenden Seelenführung«
vermittelt und begründet.

Dieser Führungsanspruch wird aber auch anhand der Anwendungsweise des psychologischen Know-hows in den jeweiligen Psychagogikkontexten ortbar. Hier wird dann sehr deutlich, wie die Psychologie mitsamt ihren "Humantechnologien" im Zuge eines spirituellen und philosophischen Seelen- und Heilbezugs in den Dienst eines evolutionär-paradigmatischen Entwicklungs- und Führungsanspruchs gestellt wird. Die hierfür bemühte spirituelle Heil- und Entwicklungslegitimation lässt dabei aus der "Psychagogia" des ehemaligen Manichäisten Augustus Aurelius und deren christlich-ethischer Programmatik im Dienst einer spirituellen und trostreichen "Erfrischung der Seele auf Erden" (Blois de Louis 1837) eine evolutionäre Erziehung im spirituellen Reinheits-, Macht- und Selbsterhöhungsbezug werden. Und da deren esoterischer Ursprung wieder im Manichäismus bzw. in der manichäisch geprägten Theosophie liegt, gehört dies ebenfalls zum Untersuchungsgegenstand der Studie. Hierbei gilt es, diese Struktur trotz der buddhistischen, tantrischen, christlichen, sufistischen oder schamanistischen Mystik- und Übungsanleihen nicht aus den Augen zu verlieren.

Der Bereich von evolutionär-spiritueller Psychagogik- und Psychologieentwicklung wird aber nicht nur über diesen psychagogisch glaubensgeschichtlichen Grundbestand strukturell-phänomenologisch prägnant. Auch sein psychagogisches Expansions- und Anwendungsfeld, d. h. das Projektspektrum der modernen New-Age- und New-Era-Bewegung trägt hierzu bei. Hier wird das Konzeptions- und Praxeologiespektrum strukturtypologisch und missionsfeldspezifisch prägnant, was den gegenwartsgeschichtlichen Tradierungsradius der Studie differenzierter wahrnehmen lässt.

Hierbei untersucht die Tradierungsfrage, wie dieses Projektspektrum über seine spezifische, spirituelle und organisatorische Strukturtypologie mit dem zeitgeschichtlich älteren, nationalsozialistischen Evolutionsmissionsfeld und mit dessen völkisch-ganzheitlicher Psychagogik und Gestaltpsychologie strukturtypologisch verbunden ist. Hierzu wird mit Hilfe der wissenschaftsgeschichtlichen Strukturperspektive deutlich, warum die gestalttheoretischen und -psychologischen Ansätze ideologisch einbindbar wurden.

Den strukturell-phänomenologischen Bezugspunkt für diese konkret historische Tradierungsperspektive bieten die dargelegten theosophischen Höherentwicklungs- und Entwicklungsordnungskonstrukte und deren Bedeutung für die NS-Ideologie, ihren spirituell-politischen und sozialdarwinistischen Glaubenskern und ihre Entwicklungsideale, wobei beides in die NS-Erziehung einfloss.

Der so auch zeitgeschichtlich prägnant werdende ideologie-, glaubens- und wissenschaftsgeschichtliche Grundbestandsbezug lässt Strukturelemente des völkischen Wissenschafts-, Zucht-, Höherentwicklungs- und Selektionsbezugs und damit den strukturell-phänomenologischen Tradierungszusammenhang erkennen. Auf dieser Grundlage können die gegenwartgeschichtlichen, politisch zeitgeschichtlichen und glaubensgeschichtlichen Tradierungsradien aufeinander bezogen und strukturanalytisch ausgelotet werden.
Dies erlaubt, die modernen Psychologie- und Psychagogikansätze in ihrem Erziehungsanspruch erwachsenen Menschen gegenüber in der gegenwärtigen Gesellschaftssituation ernst zu nehmen und kritisch zu hinterfragen (W. Flitner 1958), wobei auch die Dichte der Einbindung ins Feld interessiert. Diese Tiefungsdimension bestimmt den Arbeitsschwerpunkt des ersten Bandes.
Sie bildet ein subkulturelles und (je nach New-Age- oder nach New-Era-Bewegungszugehörigkeit oder -nähe) feldsoziometrisch und organisationsstrukturell sehr verschieden ausgestaltetes, jedoch stets evolutionär-programmatisch umerziehungsorientiertes und irrationalistisches Psychologie- und Psychomarktentwicklungssegment vor dem Hintergrund eines ebenfalls evolutionär-programmatisch umerziehungsorientierten jedoch staatlich diktatorisch und völkisch sowie ideologisch selektionsfixiert ausgestalteten und hermetisch angelegten Erziehungssystem ab.